Ein neues Schulsystem muss her!


Vor fünf Jahren erlebte ich zum ersten Mal eine Abifeier, in der „meine Schüler“ ihr Abiturzeugnis überreicht bekamen. Also Schüler, die ich unterrichtet hatte. Ein hochrangiger Lokalpolitiker schwang eine Rede über die Chancen, die die jungen Leute jetzt hätten, dass ihnen die Welt offen stünde und dass sie nun an der Reihe wären, diese zu gestalten.

Bestimmt sollte diese Rede ermutigen, aber ich fand sie eher beängstigend. Und mich beschlich das leise Gefühl, dass wir unsere Schüler nicht dazu ausgebildet hatten, in die Welt hinauszugehen und diese zu gestalten.

Ich konnte dieses Gefühl lange nicht gut begründen. Mir fehlte die Selbständigkeit im Schulalltag. Zu viel Reproduktion und auswendig lernen, zu viel Kontrolle, zu viel Müssen. Sehr wenig Raum für Interessen und Eigeninitiativen. Dann las ich folgendes Zitat, das es, wie ich finde, kurz und bündig auf den Punkt bringt:

„Sie können nicht gleichzeitig lernen, angepasst und untergeordnet und flexibel, global denkend, tolerant und kreativ zu sein – die Prozesse, die hinter dem Erwerb dieser Eigenschaften liegen, sind unterschiedlich. Es ist wichtig, über zukunftsoffene Fähigkeiten zu verfügen, die ich vorgeformt sind und offene Wege ermöglichen. Wir brauchen keine angepassten, folgsamen Kinder mehr, sondern flexible, kreative, in Gemeinschaft und global denkende Kinder.“ (Susanne Mierau, Frei und Unverbogen)

Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, und durch die Digitalisierung und den weiter voranschreitenden technischen Fortschritt wird sie sich rasch weiterentwickeln. Flexibilität, Kreativität und die Bereitschaft, immer wieder Neues zu lernen, sind in vielen Berufen äußerst wichtig.

Das Schulsystem hat sich dagegen wenig weiterentwickelt. Es ist also kein Wunder, dass es uns, vor allem im technischen Bereich, an Fachkräften fehlt. Natürlich sind die Gründe dafür komplex und vielfältig, aber unser starres Schulsystem ist sicher ein Teil des Problems.

Je länger ich als Lehrerin arbeitete, desto weniger gefiel mir dieses System. Ich machte so viel, was dem, was ich an der Uni in Erziehungswissenschaften gelernt hatte, widersprach. In Psychologie, zum Beispiel, lernte ich, dass Druck überhaupt nicht förderlich ist für die Lernbereitschaft eines Menschen. In der Schule meint man aber, es geht nichts ohne Druck. Warum?

Dann bekam ich Kinder, und ich setzte mich viel mit Erziehung und Entwicklung auseinander. Nun gefiel mir das Schulsystem noch weniger. Zum einen, weil es so viele neue Erkenntnisse über Entwicklung und Lernen einfach ignoriert, und weiter macht, wie bisher, obwohl wir es doch eigentlich längst besser wissen müssten.

In den letzten Jahrzehnten gab es unglaublich viele neue Erkenntnisse über unser Gehirn, und das Lernen. Die Frage ist nur, was machen wir mit diesem Wissen? Jedenfalls ist es nicht einmal im Ansatz Teil der Lehrerausbildung, zumindest nicht für die weiterführenden Schulen.

Zum anderen erkannte ich den Grund für so manch zwischenmenschliche Schulprobleme. Viele, wenn nicht sogar der Großteil der Eltern, pflegt heute einen demokratischen Erziehungsstil. Die Schule ist aber nach wie vor absolut hierarchisch organisiert, und man muss Lehrer als Autorität akzeptieren, egal, was man von ihnen hält. Genau das haben viele Kinder und Jugendliche aber nicht gelernt, da es zu Hause ja ganz anders läuft. Kein Wunder also, dass es da zu Problemen kommt, und dass es Lehrer oft schwer haben.

Ich will jetzt natürlich nicht sagen, dass wir lieber wieder autoritär erziehen sollten. Eine demokratische Erziehung ist für mich alternativlos, und genau deshalb sollte sie eben auch in Schulen stattfinden. Überhaupt sollten wir wegkommen von dem Gedanken, dass unsere Kinder auf eine bestimmte Art und Weise funktionieren müssen, und uns lieber überlegen, wie sie funktionieren. Also anstatt sie zu zwingen, sechs Stunden still zu sitzen und gut zuzuhören, sollten wir uns überlegen, warum sie das nicht schaffen.

Das ist jetzt natürlich ein überspitzt formuliertes Beispiel, und ja, man kann und sollte als Lehrer seinen Unterricht schon so gestalten, dass die Schüler nicht die ganze Zeit nur dasitzen und zuhören müssen. Aber der Rahmen, in dem ich mich dabei bewegen muss, ist verdammt eng.

Der ein oder andere wird jetzt denken, aber später müssen sie doch auch mal funktionieren, und wie sollen sie das denn lernen wenn nicht in der Schule? Müssen sie das? Hier kommen wir wieder zurück zum Zitat von Susanne Mierau. Nicht nur unsere Arbeitswelt, sondern unsere Gesellschaft, braucht flexiblen, kreativen, innovativen Nachwuchs. Keine Menschen, die gut mitmachen, das tun was man ihnen sagt. Sondern solche, die neue Wege finden. Mut haben, etwas Neues auszuprobieren.

So viele tragen schlechte Erfahrungen aus ihrer Schulzeit und deren Folgen mit sich herum. Schule ist in unserer Gesellschaft eher negativ besetzt. Man MUSS in die Schule gehen. Man MUSS Hausaufgaben machen. Man MUSS lernen. Dabei sind wir doch von Natur aus geradezu gierig danach, etwas zu lernen. In der Schule wird einem diese Lernfreude nach und nach ausgetrieben, manchen früher, anderen später. Muss das sein? Ich denke nicht!

Viele Eltern haben Angst vor der Einschulung ihrer Kinder. Für viele ist die gesamte Schulzeit problematisch, weil die Noten nicht gut genug sind, weil sie sich nicht richtig verhalten. Schule und Hausaufgaben sind DAS Streitthema in Familien. Schüler mobben oder werden gemobbt, Lehrer müssen sich irgendwie durchbeißen. Und warum das alles? Weil wir uns keinerlei Gedanken um die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen machen. Wie oft habe ich mir gewünscht, einen störenden Schüler raus an die frische Luft zu schicken, um sich auszutoben. Aber geht ja nicht, Aufsichtspflicht. Und er oder sie würde dann ja Unterricht verpassen.

Und dann ist da noch diese paradoxe Idee der Inklusion. Bitte nicht falsch verstehen – ich halte die Inklusion für längst überfällig, auf jeden Fall notwendig. Nur finde ich Inklusion in einem selektiven Schulsystem eben, naja, paradox.

Aber bevor wir jetzt auf die Politik schimpfen: Mir ist mittlerweile klar geworden, dass sich zuallererst das gesellschaftliche Denken über Schule ändern muss. Besonders deutlich zeigte mir das die Flexible Grundschule. Im Schuljahr 2010/2011 wurde der Modellversuch Flexible Grundschule in Bayern gestartet, mit durchweg positiven Ergebnissen. Zehn Jahre später gibt es gerade einmal 243 flexible Grundschulen, von insgesamt 2 257 staatlichen Grundschulen in Bayern. Hier hat die Politik den Weg bereits geebnet, trotzdem läuft die Ausbreitung eher schleppend.

Oft schieben sich Eltern und Lehrer gegenseitig die Schuld an Schulproblemen zu. Doch es ist das System, das nicht passt, und das wir dringend verändern sollten.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert