Darf eine Ministerin auch ein Privatleben haben?


Momentan überlege ich mir genau, ob ich Nachrichten schaue, denn meistens machen sie mich nur noch wütend und traurig. Aber heute hat mich meine Mutter auf den Rücktritt von Anne Spiegel aufmerksam gemacht. Ich wollte wissen, was die Tagesschau darüber berichtet. Und ich wurde wütend. Stinkwütend. Unter anderem weil ich fand, dass die Tagesschau verdammt respektlos und einseitig berichtet hat.

Aber der Reihe nach.

Anne Spiegel war bis heute Bundesfamilienministerin. Die Bildzeitung hat kürzlich „aufgedeckt“, dass sie als Rheinland-Pfälzische Umweltministerin kurz nach der Flut im Ahrtal vier Wochen Urlaub gemacht hat, mit ihrer Familie. Sie hat diesen Urlaub erklärt. Sie hat sich für ihre Familie eingesetzt, weil die sie gerade gebraucht hat. Das ist in unserem Land also ein schwerer Fehler, und ein Grund sein Amt niederzulegen.

Es sind zwei Dinge, die mich an dieser Sache so wütend machen:

Zum Einen ist es diese Einstellung, dass man für den Job alles geben muss. Denn diese Einstellung gilt ja nicht nur für die Politik. Je höher oben man ist, desto mehr Privatleben muss geopfert werden. Mit dieser Einstellung wird es keine Gleichberechtigung geben. Denn wenn einer sein Privatleben für den Job opfert, führt das automatisch dazu, dass der zweite sich für die Familie opfern muss. Ich meine damit nicht, dass eine*r zu Hause bei den Kindern bleiben muss, aber jemand muss Verantwortung für sie übernehmen. Muss zu Hause bleiben, wenn sie krank sind, Elternabende besuchen, Betreuung planen, Geburtstagsgeschenke einkaufen, ganz zu schweigen von zuhören, Gefühle begleiten und was eben sonst noch alles zur Elternschaft dazu gehört. Das ist eine große Verantwortung. Wenn man die trägt, kann es passieren, dass man im Job mal ausfällt. Eigentlich sollte das kein allzu großes Problem sein, finde ich. Eigentlich sollte jeder ohne größere Probleme für einige Zeit ersetzbar sein.

Und jeder sollte es sich erlauben können, eine Auszeit zu nehmen, wenn er sie braucht. Das ist keine Schwäche, sondern liegt einfach in der Natur. Irgendwann ist die Kraft eines Jeden erschöpft. Dann braucht er Zeit, um sich zu regenerieren. Es muss uns erlaubt sein, auf uns selbst zu achten, und genauso auf unsere Familien. Egal welchen Job wir haben. Das ist nicht unbequem, oder schwach. Das ist stark und gesund. Nur wer auf sich selbst gut achtet, kann langfristig etwas leisten. Und ohne Familien kann unsere Gesellschaft nicht überleben.

Die Frage ist ja auch, von wem wollen wir denn regiert werden? Von jemandem, der immer perfekt in seinem Amt funktioniert, oder von Menschen aus Fleisch und Blut, die wissen, wie es ist, in dieser Gesellschaft zu leben, Eltern zu sein, Job und Familie zu jonglieren, dabei ab und an (täglich viele) Fehler zu machen?

Das Zweite ist diese Fehlerintoleranz, die in unserer Gesellschaft herrscht. Schlimmer noch: Scheinbar ist ein Fehler einer öffentlichen Person ein Freibrief dafür, auf dieser Person herumzutrampeln und sie niederzumachen. Auf einmal weiß jeder, was für eine*n Politiker*in in einer bestimmten Situation angebracht ist und was nicht. Und wie man so ein Amt auszuführen hat. Was ihre Aufgaben sind, und was sie dabei falsch gemacht hat.

Ich habe keine Ahnung, was eine Umweltministerin den ganzen Tag so treibt, was ihre Aufgaben sind oder was sie konkret nach einer Flutkatastrophe hätte tun sollen, aber eine Menge Menschen scheinen das ganz genau zu wissen und fühlen sich jetzt dazu berechtigt, ein Urteil zu fällen und das Dank Internet auch noch auf deutliche und teilweise sehr respektlose Weise weiter zu verbreiten. Und die Tagesschau macht dabei auch noch mit. Argh.

Anstatt sofort zu urteilen und es besser zu wissen, könnten wir ja auch mal annehmen, dass sie einen guten Grund hatte, so zu handeln. Nehmen wir an sie wusste, dass es ihrer Familie nicht gut ging, schon seit längerem. Dass alle unter der Coronakrise litten. Dass ihr Mann am Ende war. Wahrscheinlich hatten sie diesen Urlaub länger geplant, sie freuten sich nicht nur darauf, sondern es war vielleicht ein Rettungsanker, an dem sie sich festhielten, um die Zeit bis dahin noch zu überstehen. Solche Zeiten gibt es wohl in den besten Familien. Vielleicht hatte sie auch Angst, dass ihre Beziehung zu ihrer Familie nachhaltigen Schaden nehmen könnte, wenn sie sich jetzt nicht freinehmen würde. Vielleicht hat sie vor ihrem Urlaub noch jede Menge gearbeitet und organisiert, damit sie dann guten Gewissens ihre Mitarbeiter weitermachen lassen kann.

Das ist also ein Grund, kein hochrangiger Politiker sein zu dürfen. Und nicht nur das, es ist ein Grund, mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt zu werden.

Und dann ist da noch diese Stimme in meinem Kopf, die mich fragt „wurde jemals ein männlicher CDU-Politiker dermaßen respektlos behandelt?“ und ich bin geneigt, den Kopf zu schütteln, obwohl ich das natürlich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann, und überhaupt, auf welcher Skala soll man Respektlosigkeit denn messen? Klar ist, kein Politiker wird mit Samthandschuhen angefasst, aber das heute fühlt sich irgendwie anders an. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich den einzigen Fehler, den ich in Frau Spiegels Handeln finden kann, ist, dass sie ihren Urlaub als Fehler bezeichnet und sich dafür entschuldigt hat.

Ich habe wirklich gehofft, dass sich langsam etwas ändern würde in unserer Gesellschaft. Dass wir weniger in Hierarchien denken, und nicht nur an uns selbst, sondern dass wir verstehen, dass wir nur miteinander und nebeneinander existieren können. Jetzt frage ich mich wieder, ob meine Generation das noch schafft, und ob es danach nicht schon zu spät ist.

Es ist einmal mehr diese Frage: Was für eine Welt hinterlasse ich meinen Kindern, und was kann ich tun, damit ich sie ihnen mit einem guten Gewissen hinterlassen kann?


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