„So schwer es auch manchmal fällt: Wir müssen es lernen, loszulassen. Kinder brauchen die Freiheit des Erkundens für ihre Entwicklung. Ein beständiges Eingreifen stört ihre Leistungsfähigkeit, denn die Neugier und der Entdeckerdrang sind der Motor ihrer Entwicklung. Je größer die Kinder werden, desto wichtiger wird das Vertrauen, das wir in ihre Eigenständigkeit haben und ihnen zugestehen sollten.“ Susanne Mierau, Frei und Unverbogen, S. 228
Ich hatte einen ängstlichen Vater und eine ängstliche Oma. Sie standen mit ausgebreiteten Armen hinter mir, wenn ich wo raufgeklettert bin. Viele Sachen durfte ich in ihrer Anwesenheit gar nicht tun. Die Folge davon: Ich bin ein extrem vorsichtiger Mensch geworden. Im Skikurs in der siebten Klasse bin ich in einer Woche nur zweimal hingefallen. Nicht, weil ich so gut Skifahren konnte, sondern weil ich so vorsichtig fuhr. Ich habe nie eine Rückwärtsrolle gelernt, weil ich Angst davor hatte, mir weh zu tun. Handstand ging nur, wenn mich jemand festhielt. Auch heute habe ich noch Angst davor, mir weh zu tun, zum Beispiel beim Toben mit meinen Kindern.
Deshalb war es mir von Anfang an wichtig, dass ich mit meinen Kindern anders umgehe. Dass ich ihnen zeige, dass ich ihren Fähigkeiten vertraue. Dass sie lernen, dass hinfallen zum Leben dazugehört, und kleine Unfälle zwar nicht schön, aber meistens nicht weiter tragisch sind.
Das ist oft schwer. Viel zu oft rutscht mir ein „Vorsicht!“ oder etwas ähnliches raus, oder ich zucke zusammen, oder reagiere übertrieben auf eine eigentlich harmlose Situation. Und wie soll man eigentlich entscheiden, ob man eingreifen soll oder nicht?
Es fällt mir wahnsinnig schwer, das richtige Verhältnis zu finden zwischen Entdecken lassen und von Gefahren abhalten. Ständig frage ich mich, ob ich zu vorsichtig bin oder zu wenig vorsichtig.
Und es ist ja auch schwer zu entscheiden, was nun das richtige Maß an Hilfe oder Aufpassen ist. Kann ich Max schon alleine die Treppe rauf krabbeln lassen? Oder runter? Kann ich ihn alleine auf dem Hocker im Bad stehen lassen? Kann ich ihn alleine auf dem Sofa sitzen lassen? Noch dazu ändern sich seine Fähigkeiten ständig, an einem Tag fällt er noch von der Couch, am nächsten hat er genau den Rand im Blick und lässt er sich mit den Füßen voran vorsichtig runter gleiten.
Eigentlich bin ich mir sicher, ohne Hinfallen geht es nicht. Besonders das Laufen lernen, doch beim Klettern ist es sicher nicht anders. Aber natürlich will ich schlimmeres verhindern… nur weiß ich ja vorher nicht, wann es schlimm wird.
Neulich kletterte Max (er ist gerade 1 geworden), während ich Leo auf dem Klo half, die Treppe rauf in den ersten Stock. Als ich es bemerkte, erschrak ich natürlich erst mal. Doch er grinste so stolz von oben runter, dass ich mich nur mit ihm freuen konnte. Und mich schließlich fragte, ob ich ihn nicht doch zu sehr einschränkte in seinem Entdeckerdrang. Er blieb auch oben sitzen und wartete, bis ich ihn abholte, weil er sich den Abstieg noch nicht zutraute. Und trotzdem fühlte ich mich schrecklich, weil ich nicht gut genug auf mein Kind aufgepasst hatte.
Als meine Kinder langsam mobil wurden, konnte ich beobachten, wie schnell sie lernten, gut hinzufallen. Wenn sie sitzen konnten, lernten sie nach kurzer Zeit, den Kopf oben zu halten, wenn sie umfielen. Sobald sie stehen konnten, lernten sie, auf den Popo zu fallen und so weiter.
Ich beobachte die beiden sehr genau, und kann recht gut einschätzen, was sie schon können. Außerdem merke ich, wenn eine Situation gefährlich werden könnte, weil zum Beispiel ein Kind müde ist und deshalb übermütig wird. Dann kommt es schon mal vor, dass ich es vom Klettern oder Rumtoben abhalte.
Ansonsten versuche ich, ihrer eigenen Einschätzung zu vertrauen, und erfahre dabei immer wieder, dass das gut funktioniert. Ich weiß, dass sie (meistens) nur Dinge tun, bei denen sie sich sicher fühlen. Sie haben gelernt, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen und ihnen zu vertrauen, weil sie diese Fähigkeiten entdecken und entwickeln durften und dürfen.
In unserem Tierpark gibt es ein Klettergerüst, das Leo jedes Mal wieder fasziniert und begeistert. Es ist nicht ganz einfach zu erklimmen, aber der einzige Weg, um zum Anfang einer großen Rutsche zu gelangen. Zuletzt waren wir vor einem knappen Jahr dort. Sein Papa musste mit ihm rauf klettern und ihm helfen, vor allem am Ende, wo es zum Rutscheneingang geht. Hier ist eine ziemlich hohe Stufe, für die er schlichtweg noch zu klein war. Kürzlich waren wir wieder dort, diesmal ohne Papa. Bei der letzten Stufe bat er mich um Hilfe. Da ich weder rauf klettern noch ihm die Rutsche verwehren wollte, versuchte ich es mit Hilfe von unten: Ich riet ihm, sich auf den Bauch zu legen und zu versuchen, sich nach oben zu ziehen oder mit den Füßen zu schieben. Es klappte, und er kam voller Stolz mit strahlendem Gesicht zu mir gelaufen. Dann kletterte er gleich nochmal rauf. Jedes Mal musste er sich wieder einen Weg suchen, aber er gab nicht auf und schaffte es immer wieder.
Dieses Erfolgserlebnis hätte ich ihm genommen, wenn ich mit ihm rauf geklettert wäre. Natürlich stehe ich unten und bin nervös und hoffe er passt gut auf, aber ich versuche, ihm das nicht zu zeigen. Zum Glück lässt er sich aber eh nicht vom Klettern abhalten.
Das mit dem Helfen ist ebenfalls eine Gradwanderung. Es ist so leicht, einem Baby, das versucht, sich umzudrehen, den entscheidenden Schubs zu verpassen, das Kind auf den Stuhl hochzuheben, auf den es gerade klettern möchte. Aber ich verwehre ihm damit eben, dass es etwas lernt, seine Fähigkeiten entdeckt, ein Erfolgserlebnis hat.
Aber es ist auch nicht immer die Zeit, um etwas neues zu lernen oder selbst zu machen. Wenn mein Kind müde ist, setze ich es schon mal auf den Stuhl, auf den es eigentlich schon selber rauf kommt, weil es viel Kraft kostet, die es gerade nicht mehr hat.
Und manchmal ist es auch schön, gemeinsam etwas zu schaffen, was man alleine noch nicht schafft. Außerdem, wenn Papa klettert, ist er ja auch ein Vorbild.
Ja, es ist verdammt schwer, das richtige Maß zu finden. Aber es ist wichtig, dass wir unseren Kindern das Gefühl geben, dass wir ihnen etwas zutrauen, damit sie sich selbst etwas trauen. Meine Kinder zu beobachten und ihre Fähigkeiten genau zu kennen hilft mir dabei. Auch solche Erlebnisse wie Max‘ Treppenaufstieg, den ich weiter oben beschrieben habe, finde ich, letztendlich, sehr lehrreich, weil ich immer wieder merke, dass meine Kinder eigentlich mehr können, als ich denke.
Es geht hier nicht um mich und meine Ängste, sondern es geht um meine Kinder. Ich wünsche mir, dass sie später einmal mutig und offen in die Welt hinaus gehen, und dafür muss ich sie üben lassen, muss ich ihr Selbstvertrauen wachsen lassen, muss ich ihnen Raum geben, sich zu entfalten. Es ist oft schwer, aber dafür kann ich stolz auf sie sein, auf das was sie schon können, und auch ein bisschen auf mich.