Gerade las ich in Nicola Schmidt’s Buch Der Elternkompass einen Abschnitt zum Thema Hausaufgaben. Sie beschreibt in diesem Buch zahlreiche Studien, die sich mit den verschiedenen Themen der Kindheit befassen.
Zum Thema Hausaufgaben wird als erstes eine Studie beschrieben, die herausfand, dass Hausaufgaben keinen Effekt haben. Es wurden zwei Schülergruppen getestet, eine, die Hausaufgaben machte, und eine die sie nicht machte. Beide Gruppen schnitten in den Tests gleich gut ab.
Ich war erst einmal skeptisch, als ich das las. Zum einen fragte ich mich, was es wohl bedeutete, dass sie keine Hausaufgaben machten. Heißt das, dass sie sich zu Hause überhaupt nicht auf den Test vorbereiteten?
Zum anderen war ich bis vor etwa einer halben Stunde felsenfest davon überzeugt, dass Schule, so wie wir sie praktizieren, ohne Hausaufgaben gar nicht geht.
Während ich weiter las, begann diese Überzeugung zu bröckeln. Weitere Studien stellten fest, dass „Kinder, die drei oder mehr Stunden täglich zu Hause büffeln müssen, am Ende weniger können als ihre am Nachmittag spielenden Kameraden“[1]. Das finde ich sehr einleuchtend, Kinder haben Bedürfnisse, wenn die nicht gestillt werden, können sie nicht gut lernen.
Ebenso wird selbständiges Lernen nicht durch Hausaufgaben gefördert. Klingt logisch, solange man sich nicht selbst überlegen muss, wie man ein bestimmtes Thema lernen möchte, sondern nur stur das macht, was der Lehrer einem vorgibt.
Das größte Problem sehe ich in der Tatsache, dass Hausaufgaben dazu genutzt werden, Leistungsunterschiede auszugleichen. Die, die in der Schule das geforderte nicht schaffen, müssen das zu Hause nachholen. Zusätzlich brauchen sie für die für alle gleich gestellten Hausaufgaben länger als andere, wodurch sich die Arbeitszeit am Nachmittag für diese Kinder vervielfacht. Doch gerade diese Kinder brauchen vielleicht noch mehr Zeit zum Spielen, um sich zu regenerieren oder um andere Bedürfnisse zu erfüllen.
Durch die Lernzeit zu Hause werden auch soziale Unterschiede verstärkt. Manche Kinder werden bei den Hausaufgaben sehr stark unterstützt, andere kaum. Viele Eltern, deren Kinder Hilfe bräuchten, können ihnen diese nicht geben. In Familien, in denen viel unterstützt wird, sorgen die häuslichen Schularbeiten allerdings oft für viel Streit und ein schlechtes Familienklima.
In einer Studie wird die Wirksamkeit von Hausaufgaben folgendermaßen zusammengefasst: „In den Zensuren schlägt sich die nachmittägliche Quälerei mitnichten nieder. Entscheidend ist nicht die Hausaufgabe, sondern die qualifizierte pädagogische Betreuung.“[2] Es wird also mal wieder auf die Lehrer geschoben. Vielen Dank. (Es ist ja auch irgendwie logisch. Das Unterrichten ist der Job der Lehrer, nicht der Eltern. Ich wünschte nur, wir Lehrer hätten die Möglichkeit ALLEN das zu geben, was sie brauchen.)
Was sollen wir also tun? Hausaufgaben abschaffen? Klingt für mich irgendwie nicht machbar, gerade weil wir auch als Lehrer darauf angewiesen sind, dass leistungsschwächere Schüler das, was sie in der Schule nicht schaffen, zu Hause machen. Wir haben ja einen Lehrplan, und ganz viele unterschiedliche Kinder vor uns. (Es ist traurig das aufzuschreiben, aber so ist es.)
Ich ziehe jetzt für mich den Schluss daraus, Hausaufgaben nicht ganz so ernst zu nehmen. Vergessene Hausaufgaben nicht mit drakonischen Strafen zu ahnden. Und vielleicht im Zweifel lieber weniger aufzugeben, als mehr.
Man könnte Hausaufgaben auch generell etwas freier gestalten. Also den Schülern nahelegen, dass sie das gelernte am Nachmittag nochmal durchgehen sollen, und, wenn sie es für nötig halten, können sie noch folgende Übungsaufgaben machen. Oder vielleicht sogar jedem eine persönliche Empfehlung mitgeben, wenn das machbar ist.
Digitale Hilfe bei den Hausaufgaben wäre vielleicht auch noch eine Idee, indem ich meinen Schülern anbiete, dass ich, falls sie Hilfe benötigen, in einem bestimmten Zeitraum zur Videokonferenz verfügbar bin. Dazu benötige ich als Lehrkraft natürlich Zeit, und die Schüler brauchen die notwendige technische Ausstattung.
Auch Eltern würde ich raten, die Hausaufgaben etwas lockerer zu nehmen. Allerdings sollte man sich dabei dessen bewusst sein, dass das Konflikte mit Lehrern mit sich bringen kann. Aber vor allem sollten Eltern immer das Familienklima und die (psychische) Gesundheit ihrer Kinder über die Erwartungen der Schule stellen! Man wird einem Kind dadurch sicher nicht seine Zukunft verbauen (was auch immer das heißen mag), im Gegenteil.
Es bleibt allerdings das Problem der sozialen Ungerechtigkeit, und die Tatsache, dass Kinder nun mal unterschiedlich schnell lernen. Deshalb wäre die beste Lösung, wenn wir nicht eine Lerngeschwindigkeit für alle Schüler festlegen würden, sondern wenn jeder in seinem eigenen Tempo lernen könnte, ohne negative Folgen fürchten zu müssen. Also wenn nicht jedes Kind bis Weihnachten lesen können muss, und am Ende der ersten Klasse den Zahlenraum bis 100 beherrschen muss. Und das ohne Ausgrenzen, Auslachen, ohne dass man als Problemfall gilt.
Man muss sich natürlich überlegen, wie ein Unterricht, in dem jeder in seinem eigenen Tempo lernen kann, aussehen könnte. In der „Flexiblen Grundschule“ hat sich ja offenbar schon gezeigt, dass das geht.
Dann können wir die Hausaufgaben getrost weglassen. Und am Ende ist es doch egal, ob ein Kind 9, 10, 11 oder 15 Jahre zur Schule geht. Erstens gibt es sie ja jetzt schon, die die so viele Ehrenrunden drehen, dass man sich fragt, wie das überhaupt möglich ist. Zweitens sollte man sich ab und zu mal die Frage stellen, was man WIRKLICH lernen MUSS (ganz besonders wenn man gerade einen neuen Lehrplan schreibt). Und drittens würden die meisten Schüler auch ganz ohne Druck und ohne Hausaufgaben wahrscheinlich genauso viel lernen. Vielleicht sogar mehr.
Jedes Kind hat individuelle Bedürfnisse. Es wird Zeit, dass wir diese Bedürfnisse sehen, nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer und Erzieher! Und wir brauchen ein System, in dem das möglich ist.
[1] Nicola Schmidt, Der Elternkompass (2020)
[2] Nicola Schmidt, Der Elternkompass (2020)